Gestresst sein ist zu einem weit verbreiteten Pränomen geworden
Gestresst sein ist zu einem weit verbreiteten – und vor allem gesellschaftlich akzeptierten – Phänomen geworden. Dabei ist viel beschäftigt sein nicht grundsätzlich negativ. Machen uns die zu erledigenden Aufgaben Spaß sind wir im Flow, wir fühlen uns voller Energie und empfinden unser Handeln als sinnerfüllt. Überwältigt uns das Arbeits- und Aufgabenpensum jedoch und es fühlt sich an als ob die Dinge uns erledigen, und nicht wir die Dinge – dann sind wir „negativ beschäftigt“ wie der Organisationspyschologe Tony Crabbe es nennt. Das Handeln von negativ Beschäftigen ist gekennzeichnet durch „fieberhaftes Multi-Tasking, das uns durch unseren überladenen Alltag treibt. Es beinhaltet, immer „on“ zu sein, ständig auf unsere Smartphones zu schauen und von einer Aufgabe zur nächsten zu hüpfen. Es ist dieses ständige Jonglieren, Vollstopfen und Hetzen, das unsere Tage kennzeichnet.“, beschreibt Tony Crabbe in seinen Buch Busy Busy.
Das Gegenteil von Erschöpfung ist nicht Erholung, sondern Erfüllung
Der Hauptfaktor der zu Stress führt ist interessanterweise meist nicht das überwältigend große Arbeitspensum, sondern der Mangel an Selbstbestimmung bei Erledigung der Aufgaben. Die Tage von chronisch gestressten Menschen sind über alle Maße gefüllt, jedoch nur selten erfüllt. Die digitalisierte und globalisierte Welt fordert ständiges erreichbar sein und permanente Handlungsfähigkeit von uns. Jedes Meeting, jede Email ist dringend, nichts kann warten. Doch Überforderung herrscht nicht nur im Berufsleben. Auch das Privatleben leidet unter dem ständigen Zwang zur Effizienz und der sogenannten Fear of Missing Out (FOMO), der Angst etwas zu verpassen wenn man nicht überall mitmischt. Zurück bleibt das Gefühl gelebt zu werden anstatt das Leben selbst aktiv zu gestalten und somit mit Sinn zu füllen. Doch warum muss das so sein? Sind wir tatsächlich den gesellschaftlichen Gegebenheiten hilflos ausgeliefert und müssen uns zwangsläufig anpassen, um Erfolg zu haben? Oftmals wird die Antwort auf diese Fragen lauten „Ich habe doch keine Wahl, der Job, die Familie, die Kinder…all das muss doch gewuppt werden.“
Haben wir eine Wahl?
Das mag zunächst einleuchtend klingen, ist aber nur die halbe Wahrheit. Vorrangig dienen solche Argumente zur Rechtfertigung unseres Verhaltens und sind mitnichten unverrückbare Tatsachen. Tony Crabbe hat nach den wahren Gründen für die chronische Überlastung in unserer Gesellschaft gesucht und folgendes heraus gefunden.
Ich bin gestresst – also bin ich! Eine der wichtigsten Ursachen, warum wir uns so oft stressen, ist die Tatsache, dass „Ich bin gestresst“ oft mit „Ich bin wichtig“ gleichgestellt wird. Es ist fast schon eine Auszeichnung von sich behaupten zu können, zu viel zu tu zu haben. Schließlich zeigt das wie unentbehrlich und unersetzbar wir sind. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Erhöhung des Selbstwertgefühls durch Überbeschäftigung und Leistung. In unserer modernen Welt ist der Stolz auf das geleistete Tagwerk einem Erschöpfungsstolz gewichen, wie der Psychologe Stephan Grünewald schreibt. Stolz sind wir nicht mehr auf was wir geschafft haben, sondern auf den Grad der im Laufe des Arbeitstages „erkämpften“ Erschöpfung.
Beschäftigt sein ist einfach! Klingt erstmal merkwürdig, nicht wahr? Doch wer keine Zeit hat und immer furchtbar busy ist vermeidet es, sich mit den wirklich wichtigen Themen des Lebens zu beschäftigen. Wer immer alle Dinge erledigen und abhaken will, stellt sich nicht den großen Dingen. Dinge, die sich nicht schnell und einfach von der To-Do-Liste streichen lassen. Ein chronisch überarbeiteter Mensch findet einfach keine Zeit und Energie um sich existenziellen Fragen zu stellen, wie z.B. „bin ich in dieser Partnerschaft noch gut aufgehoben?“ oder „Ist Karriere machen tatsächlich mein oberstes Ziel?“.
Alle machen das so! Menschen sind nun mal Herdentiere, das heisst, unser Verhalten orientiert sich an der sozialen Norm. Wer gestresst und beschäftigt durchs Leben hetzt erfüllt eine wichtige kulturelle Erwartung. Nicht zuletzt dadurch, dass der Lebensbereich „Arbeit“ eine so zentrale Rolle eingenommen hat, dass wir von ihm erwarten, Antworten auf Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Wie finde ich Sinn in meinem Leben?“ zu liefern.
Geht es auch anders?
Die Erklärungen werden für viele Menschen auf den ersten Blick unangenehm erscheinen. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit ihnen lohnt sich jedoch, denn sie führen uns zu möglichen Lösungswegen. Was können wir also tun um unseren Alltag zu ent-stressen und von negativ Beschäftigtsein wieder mehr Richtung Flow zu kommen?
Bewusster handeln! Fühlen wir uns überbeschäftigt und fremdbestimmt und glauben, dass wir keine Möglichkeit haben dies zu ändern, da wir ja tun müssen was zu tun ist, werden wir hilflos und gestresst bleiben. Was wir dabei übersehen ist die Tatsache, dass Dauerstress eine direkte Folge unserer Entscheidungen ist. Das schwierige an der Sache ist, dass diese Entscheidungen unbewusst getroffen werden. Gerade in stressigen Situationen schalten wir meist in den Autopilot-Modus, das heisst wir handeln automatisch immer nach den gleichen Denk- und Verhaltensmustern, ohne wirklich eine bewusste Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Denk- oder Verhaltensweise getroffen zu haben. In akuten Gefahrensituationen sichert uns der Autopilot das Überleben, z.B. wenn wir automatisch die Hand von der heissen Herdplatte nehmen. Der Autopilot hat also durchaus seine Berechtigung, nicht zuletzt weil er die Komplexität im Alltag verringert. Doch in einer Welt in der wir unter Dauerbeschuss stehen, gewinnt der Autopilot schnell überhand.
Um aus der Stressspirale auszubrechen, müssen wir durch bewusst getroffene Entscheidungen unser Handeln selbstbestimmter gestalten. Dies gelingt durch das Praktizieren von Achtsamkeit. Eine gut in den Alltag integrierte Achtsamkeitspraxis unterstützt uns dabei zu prüfen, ob eine Angelegenheit tatsächlich dringend und wichtig ist, oder ob wir uns das uns nur vormachen. Achtsamkeit treibt sozusagen einen Keil zwischen Reiz und Reaktion und schafft somit einen Raum für bewusstes und selbstbestimmtes Handeln.
Sei kein Schaf! Wie gesagt, der Mensch ist ein Herdentier und Überbeschäftigtsein gilt als soziale Norm in unseren Gefilden. Dennoch ist es für chronisch gestresste Menschen empfehlenswert, aus der Herde auszubrechen und das Beschäftigtsein nicht mehr zu glorifizieren. Anstatt in den Kanon des „Ich habe ja soviel zu tun.“ Einzustimmen, sollten wir uns klar davon abgrenzen. Es erfordert jedoch eine gehörige Portion Mut, Dinge wie „Ich habe mich bewusst dazu entschieden, weniger beschäftigt zu sein.“ laut auszusprechen und diesen Standpunkt auch zu verteidigen. Aber stelle dir nur einmal vor, ein Lemming hätte die Entscheidung, die Tausende andere Lemminge vor ihm getroffen hatten, bewusst hinterfragt – das Leben dieses einen Lemmings hätte vermutlich einen ganz anderen Verlauf genommen.
Erfüllung statt Erholung! Das Gegenteil von Erschöpfung ist nicht Erholung, sondern Erfüllung. Diese Erfüllung erleben wir durch Aktivitäten die uns große Freude bereiten, die wir mit großem Engagement und viel Konzentration ausüben und möglichst wenig mit Pflichterfüllung zu tun haben, schreibt Tony Crabbe. Besonders wichtig sind dabei sogenannte mastery experiences. Nach der Arbeit beschäftigen wir uns am Besten mit Dingen, die uns die Möglichkeit geben, uns als kompetent zu erleben und Neues zu lernen. Besonders gut eignen sich hierfür neue Hobbies, Sport oder soziales Engagement.
Was tust du?
Ich hoffe diese Einblicke in die theoretischen Hintergründe zum Thema Stress und überbeschäftigt sein haben dir gefallen. Aber alle Theorie und alles Wissen bleibt wirkungslos, wenn wir es nicht in Taten umsetzen. Daher möchte ich dich ermutigen, dir Gedanken darüber zu machen, welche konkreten Schritte du einleiten kannst, um dem Zuviel in deinem Leben Einhalt zu gebieten. Was tust du, bzw. was wirst du nicht mehr tun? Lass es mich wissen! Ich bin gespannt auf dein Feedback in den Kommentaren.
Da steckt viel Wahres in diesem Blog. Es gefällt mir, daß er zum Nachdenken oder Mitdenken anregt. Zusätzlich wäre es sinnvoll auch auf aktive Regenerationstechniken zu verweisen, da man auch bei guter Absicht, unter Stress geraten kann.
Ihr Ansatz ist wohl eher mittelfristig angelegt, oder?